Der erste Satz: Aller Anfang ist… – mitunter ein ganzer Roman

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Der erste Satz: Aller Anfang ist… – mitunter ein ganzer Roman

Kommentare zum Artikel: 1

Der Letzte wird der Beste sein. So viel erstmal vorab – zum Thema erster Satz in einem Roman. Klar, ein paar Klassiker fallen einem da schon ein. Notfalls hilft auch die Suchmaschine. Und Krimiklassiker sowieso, spezial amerikanische, da gab´s früher eine regelrechte Kunst des ersten Satzes.
Aber sonst? So viele richtig gute erste Sätze gibt’s gar nicht, ehrlich gesagt. Das ist zumindest der Eindruck, der bei mir durch eine Zufallauswahl aus dem Bücherregel mit den gelesenen Titeln der letzten Jahre entsteht.
Einige – ansonsten – ziemlich gute Bücher sind durchgefallen, weil ausgerechnet der erste Satz, na ja, eher so Naja war. Bei anderen funktioniert der erste Satz nicht alleine, bloß im Kontext eines ersten Absatzes, in dessen Rahmen er mit seinen Nachfolgern spielt. Zählt aber nicht – denn es geht ja um den ersten Satz und nur den.
Richtig gute Bücher sind alles in allem sowieso Mangelware, viel Durchschnitt, viel Okayes, wenig Brillantes, also wirklich RICHTIG Brillantes, ganz zu schweigen von Brillantem mit tollem ersten Satz. Hält sich in Grenzen, die Auswahl. Aber, immerhin, ein paar richtig gute erste Sätze in richtig interessanten Romanen der letzten Zeit waren schon zu finden. Hier eine kleine, subjektive, von der eigenen Lesebiograpie der letzten beiden Jahre geprägte Zufallsauswahl. Und, wie gesagt: Der Beste kommt zum Schluss.


„Ich bin der Henker meines Vaters.“

Und warum das so kommt, kommen muss, berichtet der Erzähler der südkoreanischen Autorin Jeong Yu-jeong in dem Roman “Sieben Jahre Nacht” (Unionsverlag) in einer atemberaubenden Geschichte, die das Rätsel ihres ersten Satzes tatsächlich erst ganz am Schluss auflöst.

“Eines strengen Winterabends, als so eine Unwirklichkeit über London liegt, mit einem Nebel, der ruhelos schläft über der Stadt, und mit verschwommenen Lichtern, als wäre hier gar nicht London, sondern ein fremder Ort mit auf einem fernen Planeten, da nimmt Moses Aleotta den 46er Bus Ecke Chepstow Road und Westbourne Grove Richtung Waterloo, jemand vom Zug abholen der aus Trinidad kommt.“
Der Beginn des Romans „Die Taugenichtse“ (dtv) von Samuel Selvon, einem Klassiker der Migrationsliteratur. Nebliges Willkommen für Tausende karibische Einwanderer in London – Selvon schrieb die Geschichte dazu. 2017 wurde dieses Buch – nach über 40 Jahren – erstmals ins Deutsche übersetzt.

„Hätte Desiree mir nicht mir ihren langen, sauberen Fingern jeden Lippenstift und Nagellack einzeln vorgeführt, wäre ich niemals auf die Idee gekommen zu klauen.“
Will man doch wissen, wer Desiree ist – und wen sie auf die Idee zum Klauen gebracht hat, oder? Und vor allem: Was da noch so kommen wird… – Das ist „Ellbogen“ (Hanser) von Fatma Aydemir; ihr Roman erzählt von türkischstämmigen Mädchen in Berlin – und die Sache mit dem Klauen ist noch das geringste Problem, das sie im Lauf des Romans haben werden. Ein Debüt mit Ecken und Kanten, das Schwächen hat – aber auch eine Wucht, die selten ist im braven deutschen Literaturbetrieb.

„Erschöpft und müde sinke ich auf den feuchten Boden meiner Zelle und denke wieder an diese Leute, die wie ungeliebte Quallen die Meere befallen und sich an fremde Ufer geworfen haben.“
„Erschlagt die Armen“ (Edition Nautilus), der Roman, mit der die literarische Erfolgskarriere der indisch-französischen Schriftstellerin Shumona Sinha begann, wie ihre Erstkarriere als Übersetzerin bei der Pariser Ausländerbehörde gleichermaßen damit endete: Eine sehr bittere – und provokative – Bestandsaufnahme zum Thema Asyl in Europa.

„Letztlich bist du also wegen der Möse einer Frau Faschist geworden.“
Wenn es denn so einfach wäre – oder ist´s am Ende gerade das, dass es SO einfach ist? Politik und Verbrechen – und der mehr oder weniger ganz normale Wahnsinn eines Mannes, der die Chefin des Front National durch´s Leben begleitet: Einstieg in Jérome Leroys grandiosen Politthriller „Der Block“. (Edition Nautilus)

„Am Tag seiner Rückkehr vom Nanga Parbat (mit Bildern, die sich in die Seele rammten, so viel Schönheit war unmenschlich) sagte Papa, als wir beim Abendessen saßen, die Bergsteigerei sei zu technisch geworden, das worauf es ankomme, ginge immer mehr verloren, er werde damit aufhören.“
„Die Affekte“ (Suhrkamp) von Eduardo Halfon: Ein bolivianischer Autor mit palästinensischen Wurzeln erzählt die Geschichte dreier bayerischer Mädchen, die samt Familie nach dem Zweiten Weltkrieg nach Südamerika auswandern müssen, weil der abenteuerlustige Vater in Deutschland und Europa keine Perspektive mehr sieht. Eine der Drei steht – ebenso wie der Nazischlächter Klaus Barbie – mit dem Tod von Che Guevaras Nachfolger in Verbindung. Wie? Wird an dieser Stelle nicht verraten, es geht hier ja bloß um den Anfang der Geschichte…

„Zum Beginn der Zerstörung Israels überlegte Isaac Bloch, ob er sich umbringen oder ins jüdische Seniorenheim gehen sollte.“
Der Anfang des Romans „Hier bin ich“ (Kiepenheuer & Wietsch) von Jonathan Safran Foer. Und, wie gesagt: Der Beste. Zerstörung Israels? Ein kleiner Satz mit immenser Wirkung – er baut einen Spannungsbogen über 683 Seiten auf – und wie das funktioniert, während „nebenbei“ die Geschichte einer zerbrechenden Familie bis ins Detail erzählt wird, das ist ist wirklich, wie man so sagt: Sensationell.

Ein Kommentar

  1. sabine corinth am

    lieber ullrich noller,
    hab ich mal wieder nicht schnell genug reagiert. vor kurzem wurden 2 oder 3 krimis vorgestellt die von autoren stammen, die selbst polizisten o.ä sind /waren…
    wo finde ich im blog den hinweis darauf? bzw können sie mir nochmal die titel nennen?

    lieben dank und gruß
    sabine c.

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