Gradmesser für Toleranz: Michael Jeismann über Paare zwischen den Kulturen

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Gradmesser für Toleranz: Michael Jeismann über Paare zwischen den Kulturen

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Mit der Globalisierung steigt auch die Zahl der “gemischten“ Paare rapide an. “Interkulturelle Paare sind das Kaleidoskop jeder Gesellschaft“, sagt der Historiker Michael Jeismann. “Hier sind Unterschiede, manchmal auch Gegensätze im Zusammenleben zweier Menschen vereint, die gemeinhin als kaum miteinander vereinbar gelten – und niemand weiß, was aus diesem Miteinander entsteht.“
Wer über Paare aus verschiedenen Kulturen spricht, der muss also auch über ihre Kinder reden. Sie tragen notwendigerweise alle Unterschiede wie auch die Gemeinsamkeiten in sich. Damit verkörpern sie die Aussicht auf ein Miteinander in der Zukunft – und sind doch vielfach immenser Diskriminierung ausgesetzt.
Michael Jeismann, der von 1993 bis 2006 im Feuilleton der FAZ arbeitete, dann als Professor für Geschichtswissenschaften zur Berliner Humboldt-Universität wechselte, lebt selbst in einer interkulturellen Beziehung. Auf die Idee zu seinem Buch “Die Freiheit der Liebe. Paare zwischen den Kulturen” (Hanser Verlag, Euro 26,–) kam er allerdings durch die heute rund um die Welt sprunghaft ansteigenden Zahlen interkultureller Paarbeziehungen.
Ein Thema, das auf der Hand liegt – und das Leben spiegelt. Um so erstaunlicher, dass Jeismanns Buch das erste ist, das die Geschichte der interkulturellen Paare umfassend aufarbeitet. Exzellent recherchiert und blendend erzählt – eine wahres Füllhorn an spannenden Paargeschichten tut sich da auf.
Umstritten sind interkulturelle Beziehungen schon seit der Antike. Die erste Ehe zwischen den Kulturen ist für das Jahr 1300 vor Christus nachgewiesen, das erste Verbot ist um 450 vor Christus belegt. Seitdem gibt es zwei konkurrierende Linien: Abschottung versus Öffnung. Und immer wieder heftige Diskussionen: Wie ist es zu bewerten, wenn die Kulturen sich in einem Paar vermischen?

Glück und Unglück liegen nahe zusammen bei Paaren zwischen den Kulturen – warum das?

Weil die Partner nicht nur miteinander im Alltag zurechtkommen müssen mit allem, was dazugehört – von den kleinen, wichtigen bis zu den großen und manchmal doch unwichtigen Dingen. Vielmehr müssen sie sich mit Vorbehalten auseinandersetzen, denen sie von Seiten des Staates, der Gesellschaft und der eigenen Familien ausgesetzt sind. Das kann Beziehungen sehr belasten. Das Glück gibt es aber auch, indem beide Partner erfahren, wie sie durch den anderen bereichert werden und die Welt mit anderen Augen sehen können. Die Märchen aus aller Welt erzählen viel davon.

Inwiefern lösen solche Paare besondere Emotionen aus?

Bei den Umstehenden kann fast instinktiv der Eindruck entstehen, dass die Partner doch nicht zusammen passen können, da sie auf die eine oder andere Weise so unterschiedlich sind. Das Paar wirkt auf manche wie ein Fremdkörper in der eigenen Gesellschaft. Fast so, als sei die Unterschiedlichkeit nicht zu ertragen. Im Licht der Großen Flucht aus Afrika und dem Nahen Osten sowie der Diskussionen, wie viel Fremde sich ein Land zumuten kann, ist das „gemischte Paar“ eine der intimsten und verletzlichsten Konstellationen der Gegenwart.

Was sagt der Umgang mit solchen Paaren über eine Gesellschaft aus?

Die Paare sind wie die Mistel im Baum: Wo solche Paare respektiert werden, herrscht gesellschaftlich ein gutes, tolerantes Klima. Es geht um unsere Vorstellung von Gleichheit und Ungleichheit – und welche Rolle die Liebe als Vermittlungsinstanz spielt.

Sie schauen zurück bis in die Antike – welche Erkenntnisse über interkulturelle Paare haben Sie in der Geschichte gefunden?

Die „gemischten Paare“ sind so alt wie die Menschheit selbst – und sie stehen für das Neue schlechthin. Anders gesagt: Ohne sie wäre nichts Neues je in die soziale Welt gekommen. Wesentlich ist folgendes: Als „anders“ wurde durchaus nicht immer der empfunden, wer eine andere ethnische Herkunft hatte. Vielmehr standen im Verlauf der Geschichte für die Bestimmung dessen, was als fremd galt, ganz unterschiedliche Dinge im Fokus: mal der soziale Status, mal die religiöse, lokale oder später nationale Zugehörigkeit. Und die Frage war stets: Wie zwingend ist diese Zugehörigkeit? Wen oder was schließt sie aus? Und welche Ausnahmeregelungen gab es?

Gibt es so etwas wie eine Entwicklung hin zur Gegenwart?

Seit dem neunzehnten Jahrhundert sind die „gemischten Paare“ und ihr Anspruch auf mögliches Zusammenleben Teil der großen Emanzipationsbewegungen auf allen Ebenen: sozial, ethnisch, religiös. Heute umfasst diese Bewegung selbstverständlich auch gleichgeschlechtliche Paare. So betrachtet ist in den Ländern der westlichen Welt manches erreicht worden, das verteidigt werden sollte – und in den Gesetzen der Europäischen Union zu verankern ist. Es müsste ein europäisches Eherecht geschaffen werden, was diese Freiheiten auch im Paar garantiert. Damit würde sicherlich eine europäische Identität gefördert. Diese Stärkung der politischen kollektiven Identität war seit Perikles Staatsbürgergesetz 450/51 v. Chr. stets das Ziel von Heiratsverboten und –ordnungen.

Was hat Sie eigentlich an dem Thema so interessiert, dass ein solches Buchprojekt daraus wurde?

Es war das einzigartige Aufeinandertreffen zwischen individuellen und kollektiven Ansprüchen, die immer wieder neu bearbeitet und moderiert wurden. Es waren Geschichten von Liebe und Hass, von Heldentum und Feigheit. Wahrhaftig eine Weltgeschichte zwischen Gefühlen und Gesetzen. Und am Ende ist auch das ungewöhnlichste Paar in einem Alltag, in Prozess des Älterwerdens und der Gewöhnung.

Wie war die Recherche?

Dieses Thema besaß von Beginn an eine ungeheure Sogwirkung und trieb mich weit in das offene Meer der Geschichte. Manchmal fühlte ich mich wie Odysseus und war mir nicht sicher, ob ich heil zurückkehren würde von diesem Abenteuer. Umso mehr freue ich mich, dass das Buch fertiggeworden ist. Die erste Weltgeschichte dieser Paare. Meine Quellen bezog ich ebenso aus Bibliotheken und Zeitungen wie aus dem Internet und persönlichen Begegnungen. Insofern war meine Recherche ebenso gemischt wie die Paare selbst.

Wer von interkulturellen Paaren spricht, darf von ihren Kindern nicht schweigen – welche Rolle spielen sie?

Die Kinder waren immer der springende Punkt und eine institutionalisierte Form des Zusammenlebens mit rechtlich gesicherten gegenseitigen Ansprüchen – und einer Zugehörigkeitsforderung an das Gemeinwesen. Solange es ausschließlich um Sex und Erotik ging, war die Gesellschaft manchmal zwar ungehalten, aber wirklich ernst wurde es erst, wenn Kinder diese Zugehörigkeit auf Dauer stellten. Deshalb wurden die Kinder von Besatzungssoldaten meist abgelehnt: Anne-Frid Lyngstadt, eine der beiden Sängerinnen der Gruppe ABBA, war das Kind einer norwegischen Mutter und eines deutschen Soldaten – die beiden sahen sich angesichts der Anfeindungen gezwungen, nach Schweden zu emigrieren.

Wie geht es den Paaren zwischen den Kulturen heute, im Zeitalter von Globalisierung und Digitalisierung?

Einerseits können sie sich durch erleichterte Reisebedingungen sowie mit Hilfe der elektronischen Medien leichter als früher finden. Soziologisch gesprochen hat sich der Heiratsmarkt weit geöffnet. Man muss sich vorstellen: Die erste „gemischte Ehe“ wurde in China erst im Jahr 1977 nach einer Intervention des Spitzenfunktionärs Deng Xiaoping offiziell in Shanghai geschlossen.

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