Mit Worten schießen – Gary Victor schreibt Krimis in Haiti

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Mit Worten schießen – Gary Victor schreibt Krimis in Haiti

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Manchmal, sagt Gary Victor, ist ihm danach, mit einer Waffe rauszugehen und jemanden niederzuschießen – wenn er über die Zustände in seinem Land nachdenkt. Und darüber, wie bestimmte Menschen zu Lasten anderer davon profitieren. Klingt nun nicht eben politisch korrekt – was an dieser Stelle allerdings bis auf weiteres für den genannten spricht, schließlich sind Kriminalschriftsteller für alles mögliche verantwortlich, nicht aber für politische Korrektheit, die guten zumindest.

Sollten Länder vom Pech verfolgt sein können, hätte Haiti beste Chancen auf einen Spitzenplatz im globalen Ranking – Armut, Hunger, Diktaturen, Naturkatastrophen beuteln die geplagte Bevölkerung wie keine andere. Das schwere Erdbeben im Jahr 2010 kostete mindestens 200.000 Menschen das Leben; ein paar Jahre später setzte Hurrican Matthew noch einen drauf. All das ist schlimm und an manchen Tagen vermutlich kaum auszuhalten für einen Menschen wie Gary Victor. Aber natürlich kein Grund zur Waffe zu greifen. Die Gründe für die Wut, die den gelernten Journalisten innerlich den Hahn spannen lässt, sind menschengemacht, all die gesellschaftliche Verderbtheit nämlich, die man unter dem Begriff „Korruption“ grob zusammenfassen könnte. Im Visier sind diejenigen, die auf Kosten derer, die sowieso nichts haben, reich werden – und die dabei es schaffen, den Habenichtsen das Letzte abzupressen, was die bräuchten, um gerade überleben zu können.

Und der wütende Gary Victor geht tatsächlich manchmal raus, um jemanden niederzuschießen, zumindest metaphorisch gesehen: Das, was er als Chefredakteur einer großen Tageszeitung in Port-au-Prince nicht radikal genug formulieren und argumentieren kann, packt er in die Kriminalromane um seinen Ermittler Dieuswalwe Azémar, der, von seinem Chef abgesehen, der einzig unbestechliche, ehrliche Ermittler des Landes ist. Auf eine Weise, zumindest. Und der tatsächlich schießt, ohne jeden Skrupel, wenn es darauf ankommt. Was häufiger der Fall ist, wenn man in einem Land wie Haiti zumindest für ein wenig Recht und Ordnung sorgen möchte. Was wiederum auch irgendwie absurd scheint im ganz großen Chaos, wenn es etwa gerade ein Erbeben gegeben hat, dem Hunderttausende zum Opfer gefallen sind. Das ist dann genau die Paradoxie, die Gary Victor mit seinen Geschichten auf die Spitze treibt – etwa wenn Azémar den Tod der Frau seines Chefs ermitteln muss, die beim Erdbeben umkam, ausgerechnet während sie mit Azémar geschlafen hat und ihm so ungewollt das Leben rettete. Klingt verrückt? Ist es. Aber plausibel. Und treffend.

2019 ist „Im Namen des Katers“ erscheinen, das bislang letzte Abenteuer mit mit Dieuswalwe Azémar, drei Romane hatte der litradukt Verlag zuvor bereits ins Deutsche übertragen – „Schweinezeiten“ (2013), „Soro“ (2015) sowie „Suff und Sühne“ (2017). Einer dieser Romane ist besser als der andere – Gary Victor gehört im Moment zu den interessantesten und besten Gegenwartsautoren der Genreliteratur weltweit: Großartige Charaktere, spektakuläre Bilder, aberwitzige Plots sind sein Markenzeichen, ein souveräner Könner mit einzigartigem Stil und famosem dramaturgischen Gespür. Gary Victor hält so der haitianischen Gesellschaft mit den Mitteln der Kriminalliteratur den Zerrspiegel vor, Kafka und Dostojewski sind ebenso seine Inspirationsquellen wie die großen Klassiker der Spannungsliteratur. In der ganz eigenen Mischung aus Realismus und Surrealismus, die er so plakativ und doch zugleich doch auch filigran anrührt, findet er Mittel und Wege, mit der Form, dem Medium „Krimi“ zu agieren, die es so noch nicht gegeben hat. Abgesehen davon aber auch: Blendende Unterhaltung mit bösem Witz, die einem allerdings das Lachen, das manchmal aufkommen möchte, direkt im Halse stecken bleiben lässt.

Krimi aus Haiti, das ist also nicht bloß ein exotisches Lektüre-Ausflugsziel, sondern Stoff von einem Krimimacher, der genau weiß, was er kann, was er will – und der selbstbewußt von Port-au-Prince aus seinen Part zur globalen Krimikultur beiträgt: Gary Victor, der Mann, den es manchmal in den Fingern juckt.

(Aktualisierte Version eines Textes, der im Rahmen der “litprom-Literaturnachrichten” in der taz erschien.)

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