Von Orhan Pamuk und Burhan Sönmez: Neue Romane aus der Türkei

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Von Orhan Pamuk und Burhan Sönmez: Neue Romane aus der Türkei

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Wie umgehen mit den politischen Verhältnissen? Was kann man wie offen sagen – und schreiben? Welches Risiko eingehen? Für die türkischen Schriftsteller ist die Lage in ihrer Heimat doppelt schwierig, sie müssen wie jeder andere Bürger auch mit der alltäglichen Situation klar kommen – und zusätzlich zugleich mit dem Risiko, das sich durch ihren Beruf ergibt. Wobei man sich öfter wundert, wie kritisch sich türkische Autoren vielfach mit den herrschenden Verhältnissen nur leicht verklausuliert beschäftigen – wenn man bedenkt, wegen welch absurder und weit hergeholter Vorwürfe Menschen in der Türkei derzeit mitunter “wegen Terrorverdacht” in Haft genommen werden.

Orhan Pamuk: Die rothaarige Frau (Hanser, Euro 22)

Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk erzählt in seinem neuen Roman „Die rothaarige Frau“ die Geschichte der Türkei von den 1980er Jahren bis heute, indem er dem Lebensweg eines Jungen namens Cem folgt, der ohne Vater aufwächst, als Jugendlicher einen Job bei einem Brunnenbauer annimmt, nach einem Unfall von der Baustelle im Istanbuler Umland flüchtet, sich jahrelang quält mit der Frage nach den Folgen des von ihm verschuldeten Ereignisses – und schließlich als erfolgreicher Bauunternehmer in seinen besten Jahren in der der Erdogan-Zeit dramatisch von seiner Vergangenheit eingeholt wird.
Wie hat sich die Türkei in den letzten dreißig, vierzig Jahren verändert? Was ist gelungen – und was auf der Strecke geblieben? Und: Welche Opfer sind zu beklagen? Das sind die Fragen, denen Pamuk nachspürt; auch stilistisch, denn das Buch beginnt ganz einfach, wie eine der anatolischen Dorfgeschichten, die es früher zuhauf gab, und endet als Istanbuler Metropolenroman.
Scheint erstmal nicht so spektakulär, und die aktuellen Gesellschaftsverhältnisse samt ihrer Problematiken klingen auch bloß in drei, vier kleinen Sequenzen direkt an. Dann zum Beispiel, wenn ein junger Mann, eher konservativ, der zufällig im Gefängnis landet, sich Gedanken um die ganzen Linken und Kurden dort macht. Trotzdem entfaltet dieser Roman letztlich eine ungeheure gesellschaftskritische Kraft, eine enorme Dynamik, die gewissermaßen aus der menschheitsgeschichtlichen Tiefe kommt: Die Geschichte, die Orhan Pamuk erzählt, ist einerseits eine Variation auf zwei uralte Mythen, den Ödipus-Mythos und den des Sohrab aus dem persischen Heldenepos Schahnameh. In beiden werden gestörte Vater/Sohn- bzw. Sohn/Vater-Beziehungen erzählt und radikal zugespitzt, und vor diesem Hintergrund spiegelt Pamuk aktuelle gesellschaftliche Dynamiken – in der Türkei, so kann man den Roman lesen, herrscht eine kollektive Gemengelage, die das Wirken einer autoritären “Vaterfigur” samt klarer Ansage nicht bloß begünstigt, sondern schicksalhaft bedingt.
Hinzu kommt das schöne Bild des Brunnenbauers, der immer tiefer und tiefer und tiefer gräbt – ein Leitmotiv gewissermaßen für diesen Roman, den man auch als die Psychoanalyse eines Landes lesen kann. So gesehen bietet „Die rothaarige Frau“ ein echtes Aha-Erlebnis, und es ist faszinierend, wie sich letztlich die einzelnen Elemente der dann doch ganz und gar nicht “simplen” Geschichte ins Gesamtanalysebild fügen…

Burhan Sönmez: Istanbul, Istanbul (btb, Euro 20)

Ein Barbier, ein Student, ein Arzt, ein alter Herr aus der Provinz – vier Männer sind in einer Gefängniszelle irgendwo im Istanbuler Untergrund zusammen gepfercht. Eine ungewollte Schicksalsgemeinschaft einiger ganz verschiedener Typen mit unterschiedlichsten Lebensläufen, die bloß eines ein: dass sie dort sind, warum auch immer, dass einer wie der andere schwerer Folter ausgesetzt ist, dass keiner weiß, wie es weitergeht.
Wie kann man das ertragen? Zwischen den „Verhören“ erzählen die Männer sich in der Zelle Geschichten, Anekdoten, auch Witze. So entsteht langsam ein Bild der Situation drinnen und draußen: Einerseits das einer Diktatur mit Widerstandsbewegung – wer verdächtigt wird, dort mitzuwirken, landet eben in der Folterhaft. Und andererseits das Bild der beteiligten Personen – wer sie sind, wie sie dort hin gerieten, was ihre Geschichten sind.
Zugleich spielen aber auch viele Mythen der (türkischen) Gesellschaft eine Rolle, zum Teil alte Geschichten, die von Generation zu Generation weiter gegeben werden. Sehr kunstvoll und gekonnt bettet Burhan Sönmez da orale Erzähltraditionen in seine Romankonstruktion ein. Nach und nach zeigt es sich, dass die Fünf im Kerker nicht nur der Aufenthalt dort verbindet, sondern vielmehr auch Dinge, die sich oben, noch in Freiheit ereignet haben. “Fünf” deshalb, weil es auch noch die junge Frau gibt, ein Mädchen aus den Bergen, die in der Zelle gegenüber festgehalten wird, allein…
„Istanbul, Istanbul“ enthält keine direkten Verweise auf die aktuelle Realität der Türkei, der Name Erdogan wird nicht genannt, auch nicht die Bezeichnung AKP, der Roman spielt in einer nicht klar gekennzeichneten Epoche der jüngeren Vergangenheit. Burhan Sönmez, geboren 1965 nahe Ankara, türkischer Kurde, wurde durch Übergriffe der Polizei selbst in den 1990er Jahren schwer verletzt; deshalb darf man annehmen, dass die Geschichte sich insbesondere auch auf seine damaligen Erfahrungen bezieht. Trotzdem ist „Istanbul, Istanbul“ natürlich ganz klar auch eine Allegorie auf die momentanen herrschenden Verhältnisse in der Türkei – aber eben zugleich auch eine Geschichte über den Umgang mit Widerständlern und Delinquenten in Diktaturen an sich. Ein fundamentaler Roman, beeindruckend montiert und erzählt.

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