Geschichten aus der Geschichte, das ist einer der erstaunlichsten Trends auf dem Buchmarkt, Tendenz anhaltend: Episoden insbesondere der Nachkriegsgeschichte werden zu Literatur geformt; eine Entwicklung, die es im Krimi schon länger, mittlerweile aber zunehmend auch in anderen Genres gibt, und zwar mit Bestseller-Erfolg. Erstaunlich deshalb, weil dieser Trend nicht verebbt, sondern im Gegenteil immer weitere Kreise zieht und immer wieder neue gute Geschichten erzeugt. Woher kommen wir – und wie wurden wir zu denen, die wir sind? Das sind die Fragen, die man dabei als Leitmotiv verstehen kann – und die wohl gerade in der demokratischen Krisenzeit, der wir im Moment erleben, besonders viele Menschen umtreibt, Schreibende wie Lesende.
Ein Beispiel: Frank Goldammer mit seinen Romanen um den Dresdner Kripo-Ermittler Max Heller, zuletzt erschien „Roter Raabe“ (dtv, Euro 15,99), der vierte Teil der Reihe. Heller ermittelt im Dresden der endenden Kriegs- und der Nachkriegszeit, mittlerweile ist das Jahr 1951 erreicht, eine Wahrheitssuche unter SED-Herrschaft und sowjetischer Besatzung also. Sehr spannend und sehr versiert erzählt, ein astreiner Krimi, in dem es um Morde an Zeugen Jehovas geht sowie um eine deutsch-deutsche Spionagegeschichte; Frank Goldammer zeichnet aber auch über den Plot hinaus ein vielschichtiges und vielstimmiges Bild der Zeit. Ein klasse Erzähler, man wird regelrecht hineingesogen in die Nachkriegszeit, die Goldammer lebendig werden lässt; zugleich wohnt seinen Geschichten immer auch in irgendeiner Form subkutan etwas Aktuelles inne, was sie um so interessanter macht. Diesmal spielt die Story in vielerlei Hinsicht auf unterschiedliche Erfahrungen und Lebensverhältnisse im Ost/West-Vergleich an; ein Thema, das ja gerade 2019, zum dreißigjährigen Jubiläum der Wende, viel diskutiert wird; Frank Goldammer zeigt, dass sie erstaunlichen Unterschiede, die es gibt, eben nicht bloß aus den letzten drei Jahrzehnten herrühren, sondern ihre Wurzeln eben in der Nachkriegszeit haben, sehr interessant. (Siehe dazu übrigens auch das ausführliche Interview mit ihm – hier.)
Bei der Gelegenheit und apropos deutsche Nachkriegszeit im Krimi: Auf die immer lesenswerten Geschichten von Mechthild Borrmann wurde auf diesem Blog ja schon öfter hingewiesen, hier etwa. Auch klasse, als westliche Variante zum Beispiel: Der Roman „Kaltenbruch“ von Michaela Küpper, in dem Blogtext finden sich außerdem noch weitere Hinweise auf interessante (west-) deutsche Nachkriegsromane. Zwei Motive sind es, die in diesen Romanen immer wieder auch eine Rolle spielen: Erstens massive Ablehnung, die Flüchtlinge im Westen erfahren mussten (obwohl sie keine „Ausländer“ waren) – und zweitens die Tatsache, dass alte Nazis vielerorts in den neuen Verhältnissen ungehindert weiter wirken und wirtschaften konnten. Das war in der DDR sicher, sagen wir, etwas weniger verbreitet.
Detaillierten Aufschluss dazu liefert das letzte Buch des Publizisten Willi Winkler, „Das braune Netz. Wie die Bundesrepublik von früheren Nazis zum Erfolg geführt wurde“ (Rowohlt Berlin, Euro 22). Wer regelmäßig den „Spiegel“, die „Zeit“ oder die „Süddeutsche“ liest, der kennt möglicherweise die Texte zu dem Thema, die Willi Winkler seit Jahren publiziert. In dem Buch fasst er nun alles, was er über die Jahre erfahren und recherchiert hat, zusammen; das Ergebnis ist erschütternd auch dann, wenn man bereits das eine oder andere über das Thema wusste: Gesellschaft und Politik waren bis in die höchsten Sphären lange so massiv von ehemaligen Nazis geprägt, dass es eigentlich erstaunlich ist, dass die BRD sich zu der Demokratie entwickeln konnte, die sie wurde. Anders gesagt, etwas zugespitzt: Die Bundesrepublik Deutschland, ein erstaunlich erfolgreiches Resozialisierungprojekt der Alliierten, besten Dank für diese aus der Rückschau betrachtet dann doch durchaus gewagte Initiative.
Wann und wie wurde die Bundesrepublik zur „richtigen“, zu einer lebendigen, stabilen, offenen Demokratie? Zwei Kanzlerpersönlichkeiten sind es, die gewissermaßen den Übergang markieren – einerseits Konrad Adenauer, der für die konservative, teils auch bleierne Zeit der unmittelbaren Nachkriegsjahre steht, Willy Brandt dagegen markiert Aufbruch, Emanzipation, auch Aufarbeitung, neue Zeiten. Die Kölner Schriftstellerin Brigitte Glaser hat beiden ein Denkmal gesetzt, dem Adenauer-Bestseller „Bühlerhöhe“ von 2016 folgt jetzt der Brandt-Roman „Rheinblick“ (List Verlag, Euro 20,–) Die Geschichte führt ins Jahr 1972, im November hat Willy Brandt für die SPD ein überraschend überragendes Wahlergebnis eingefahren dank vieler Jung- und Erstwähler, die endlich Schluss machen wollen mit eben dem Konservativismus der Adenauer-Zeit. Das Problem: Willy Brandt kann nicht sprechen, wegen einer Stimmbanderkrankung, er hat sich im Wahlkampf so verausgabt, dass direkt nach seinem Sieg für ein paar Wochen gar nichts mehr geht, so dass andere die Koalitionsverhandlungen übernehmen müssen – und dies, wie man heute weiß, nicht eben nur im Sinne des Siegers.
„Rheinblick“ erzählt von diesen politischen Verhältnissen, ein wenig „House of Cards“ zieht da in die beschauliche Bundesstadt Bonn ein; zugleich geht es aber auch um die gesellschaftlichen Verhältnisse in vielen verschiedenen Milieus, insbesondere bei jüngeren Menschen, speziell auch bei Frauen, Bonn steht da pars pro toto für die Republik. Aufhänger und verbindendes Glied ist ein unbekanntes Mädchen, das ermordet aufgefunden wurde. Geschichten aus der Geschichte – mit „Rheinblick“ ist Brigitte Glaser jedenfalls ein echtes Schmuckstück von einem Roman aus diesem Bereich gelungen: Sehr geschickt gedacht und konstruiert, sorgsam recherchiert, glänzend inszeniert, mit spannenden, ausgesprochen glaubwürdigen Charakteren, toll erzählt. Spannend auch, wie die neue Zeit, die Zukunft über Milieu und Atmosphäre mit einfließt, etwa bei den Sequenzen, die in den meist eher derangierten Vierteln handeln, in denen neuerdings die “Gastarbeiter” leben. Und natürlich atmet der Roman all das, was seine Zeit ausmacht, Aufbruch, Lebenslust, Zukunftsfreude, das kommt seiner Story zusätzlich zu Gute. So, keine Frage, ist die Geschichtsstunde mit ihren Geschichten aus der Geschichte nicht bloß informativ, sondern macht auch noch richtig Freude.