Wieder sitzt der Angeklagte in der hintersten Reihe neben seiner Anwältin und trinkt stilles Wasser aus Plastikbechern. Zwischendurch flüstern sie sich etwas zu, während der Zeuge vorne im Saal die Fragen des Staatsanwalts beantwortet. Tag 88. In diesen Tagen wird es ein Jahr alt, das Faktenmonster Loveparade-Prozess. Zeit für ein Zwischenfazit.
Jeder Zeuge wirft neue Fragen auf
Auch nach einem Jahr wissen wir nicht, ob die insgesamt 10 Angeklagten von Stadt und Veranstalterfirma „die richtigen“ sind, ob man ihnen eine juristische Schuld wird nachweisen können. Wir haben Opfer gehört, die im Gedränge ihre Freunde haben sterben sehen. Rechtsmediziner haben die Obduktionsgutachten der 21 Todesopfer vorgetragen. Neben vielen Polizisten saßen auch die prominenten Zeugen Schaller, Sauerland und Rabe im Zeugenstand. Bemerkenswert: Der Auftritt des knallharten Lopavent-Anwalts.
Mit jedem Zeugen kommen neue Fakten dazu, die weitere Fragen aufwerfen. Der Vorsitzende Richter stellt diese Fragen. Stundenlang. Jeden Prozess-Tag. Die Polizei liefert ihm dafür genügend Futter. Deren Arbeit ist minutiös dokumentiert. Auch Mails und Sitzungsprotokolle der Stadt gibt es zuhauf. Beim Veranstalter wird die Aktenlage dünner. Hier verlangen die Befragungen mehr Kreativität.
Eindeutig ist nach wie vor nichts
Wir haben bisher erfahren: Die Loveparade war im Kulturhauptstadtjahr 2010 „von oben“ politisch gewollt. Auch der Veranstalter hat massiv Druck gemacht. Städtische Mitarbeiter haben sich auf die teils schlampige Arbeit externer Gutachter verlassen und eindrückliche Warnungen vor der Wahl des Veranstaltungsgeländes überhört. Lagen die Fehler also in der Planung?
Oder sind – wie viele der Verteidiger mantrahaft wiederholen – die entscheidenden Fehler am Tag selbst passiert, als die Funkgeräte der Polizei versagten, als die Polizei eine Kette auf der Rampe bildete? Das scheint so lange plausibel, bis der vom Veranstalter beauftragte Security-Chef vom Osteingang als Zeuge auftritt. Praktisch ohne Vorbereitung will er den Job angetreten und nachmittags entgegen vorheriger Anweisungen Eingänge geöffnet haben. Auch seine Funkversuche liefen ins Leere.
Wie die Prozessbeteiligten arbeiten
Ein Großteil der meist akribisch vorbereiteten Verteidigung lässt mit Schuldzuweisungen in Richtung der Polizei eine klare Agenda erkennen. Bei den Nebenkläger-Anwälten – nur selten ist ein Nebenkläger persönlich anwesend – hingegen fehlt die Linie. Ihre Fragen wirken oft spontan und bauchgesteuert.
Und die Staatsanwaltschaft? Die wirkt auf mich stellenweise zahnlos, als hätte sie Zweifel an ihrer eigenen Anklageschrift. Gut, dass der Vorsitzende Richter neulich predigte: „Wir müssen die Ursache hier feststellen, wir wollen die Ursache hier feststellen und wir werden die Ursache hier feststellen.“
Warten auf das Rechtsgespräch
Der Jahrestag des Prozesses ist heute in der Verhandlung kein Thema. Für die Juristen wird wohl eher der 16. Januar eine Zäsur darstellen. Dann wollen sich Gericht, Staatsanwaltschaft, Nebenkläger und Verteidiger zusammensetzen, um über die Zukunft des Verfahrens zu beraten. Bis dahin geht es weiter wie bisher: Neue Zeugen, neue Fragen.